Einführung in die afgh. Gesellschaft
Aus Pashtoonkhwa: Jahrgang/Vol 1 Na/No 1
April 1987
Einführung in die afghanische Gesellschaft
Im Gegensatz zur Industriegesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland ist Afghanistan eine Agrargesellschaft, mit einer breiten Unterschicht, einer schmalen Mittelschicht und einer dünnen Oberschicht.
„Die große Masse der Kleinbauern, Pächter und Landarbeiter, der Wanderhirten mit geringem Viehbesitz, der Gelegenheitsarbeiter, der mehr oder weniger abhängigen Handwerker und Einzelhändler und der ungelernten Staatsbediensteten, bildet die Unterschicht, die fast 95 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Die Mittelschicht bilden auf dem Lande die Familien mit größerem Grundbesitz und in den Städten die unabhängigen Handwerker.“ ( Krause, 1972, S. 204) Zur Oberschicht gehören die Stammesfürsten, die Großhändler und die Beamten mit höherem Rang.
Vergleicht man die dreistufige Schichtung der afghanischen Gesellschaft mit der der Bundesrepublik Deutschland, so wird man feststellen, dass die Unterschicht nicht nur breiter und die Mittelschicht nicht schmaler ist als die der Bundesrepublik Deutschland, sondern dass ein zur Mittelschicht gehörender Afghane einem zur Unterschicht gehörenden Deutschen entspricht, d.h. daß eine Verschiebung der Gesamtschichtverteilung vorliegt.
Die Bevölkerung Afghanistans gliedert sich in etwa 30 verschiedene ethnische Gruppen mit unterschiedlichen Sprachen, Sitten und Gebräuchen. Dies ist auf zahlreichen Völkerwanderungen und Eroberungszügen nach Indien über Afghanistan zurückzuführen. ( Hayatullah, 1967, S. 48)
Die wichtigsten ethnischen Gruppen sind die Paschtunen, Balutschen, Usbeken, Tadschiken, Turkmenen und Hasara. Die Paschtunen sind die eigentlichen Afghanen, nach denen das Land Afghanistan benannt ist.
„ Der iranische Westen nennt sie Afghanen, der indische Osten Pathanen oder ebenfalls Afghanen. Sie selbst bezeichnen sich als Paschtunen oder in den nordöstlichen Siedlungsgebieten, wo die härtere Aussprache überwiegt als Pachtunen.“(Klimburg, 1966, S.284)
Obwohl bis jetzt keine Volkszählung stattgefunden hat, schätzt man die Zahl der Paschtunen auf über 30 Millionen. Die Hälfte davon wohnt in Pakistan. Daneben gibt es zwei bis drei Millionen Paschtunen, die Nomaden sind und keinen festen Wohnsitz haben. Sie wandern je nach Jahreszeit zwischen Afghanistan und Pakistan. Über den Anteil der sesshaften Paschtunen in Afghanistan liegen in der Literatur verschiedene Schätzungen vor. Jedoch ist meist Schätzungen gemeinsam, dass die sesshaften Paschtunen über 70 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen sollen.
„Die Paschtunen oder echten Afghanen (zu Unterschied von den unechten das sind die nichtafghanische Staatsangehörigen Afghanistans), die verwirrenderweise häufig auch als Pachtunen oder Pathanen Erwähnung finden, bilden das stärkste ethnische Element im Land.“ (Klimburg, 1966, S. 110-111)
Die Paschtunen leben sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan nach den Gesetzen des Paschtunwali, das die ungeschriebene Verfassung der Paschtunen ist.Es enthält nicht nur eine Reihe von Ehren-Eigenschaften, die alle Paschtunen, ob arm oder reich, haben sollen, sondern auch eine bestimmte Anzahl von Regeln, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Die höchste Instanz des Paschtunwali ist die Ratsversammlung (Dschirga), die politische, rechtliche und soziale Beschlüsse fasst und durchführt. Eine Angelegenheit wird solange diskutiert, bis Einstimmigkeit erreicht ist.
„ Der demokratische Einstellung der Freien gemäß und zur Vermeidung von Eifersüchteleien hat die Dschirga weder eine Sitzordnung noch einen Vorsitzenden. Man sitzt im Kreis auf herrenlosem, folglich neutralem Boden und jeder kann aufstehen das Wort ergreifen, kommen und gehen, wann immer er will. Für die Beschlüsse einer Dschirga ist nicht die Stimmenmajorität – es wird nie abgestimmt, sondern das Fehlen einer offenen Opposition maßgebend. Die Befolgung der Beschlüsse gilt als wichtige soziale Pflicht der Männer. Zuwiderhandelnde laufen Gefahr, geächtet zu werden. Weigert sich zum Beispiel im Falle einer Strafprozesses de Angeklagte, die durch Dschirga-Beschluss festgelegten Wehrgeldzahlungen an den Kläger zu zahlen, hat letzterer das Recht“ (Klimburg, 1966, S. 122), sich das ihm zustehende durch Unterstützung der Öffentlichkeit mit Gewalt vom Pflichtvergessen zu holen.
Die Ratsversammlung ist keine ständige Institution, sondern nur eine provisorische Versammlung für einen bestimmten Konflikt. Sie hat keinen zentralisierten Charakter, deshalb ist eine Ratsversammlung (Dschirga) von der anderen unabhängig und damit auch ihre Beschlüsse. Die Beschlüsse einer anderen Ratsversammlung über ähnliche Fälle können jedoch als Grundlage bei Entscheidungen dienen. Beschlüsse werden dann zur Regel erhoben, wenn von mehreren Ratsversammlungen ähnlich gelagerte Fälle ähnlich beurteil wurden. Die Beschlüsse einer Ratsversammlung( Dschirga) gelten lediglich im Einflussbereich der Versammlungsteilnehmer.
Jeder Paschtune hat das Recht, an einer Ratsversammlung (Dschirga) teilzunehmen, denn nach den Ehren-Eigenschaften sind alle Paschtunen gleich. Die jungen Teilnehmer einer Ratsversammlung haben meistens eine Zuhörerrolle, obwohl sie ebenfalls das Recht besitzen, sich zu Wort zu melden. Meistens ergreifen die alten Leute in einer Dschirga das Wort und spielen die aktive und dominante Rolle. Daraus ergibt sich, dass die Richter des Gerichtshofes des Paschtunwali die alten Leute sind, die über die Rechte und Pflichten sowie über die Sitten und Normen der Paschtunen wachen.
Die Dschirga-Größe und der Umfang betragen je nach Wichtigkeit der Konflikte von zwei bis .. Millionen Paschtunen. Die Dschirga kann durch den Angeklagten oder Beklagten oder einen Dritten einberufen werden. In manchen Fällen kommt die Dschirga auch spontan durch die Wichtigkeit eines Problems zusammen.
Das Paschtunwali wird jedem Paschtunen von Kindestagen an eingeprägt. Die Lernstätten des Paschtunwali sind die Familie, die Gastzimmer (Hujra) und der Sommergarten für die Gäste (Dira).
Die Paschtunische Familie gehört nicht zum Typ der Kleinfamilie, wie wir sie aus der westlichen Welt kennen. Man kann die Paschtunische Familie als „erweiterte“ oder „Verbandsfamilie“ bezeichnen, in de mehrere Brüder mit ihren Frauen und Kindern, mit ihren verheirateten Söhne und Töchtern und deren Kindern zusammenleben. Eine Solche Familie ist wie eine Gruppe.
Jedes Mitglied der Familie hat eine festgelegte Stellung. Einige Haben untergeordnete, andere habe übergeordnete Stellungen, hierbei hat das Alter den Vorrang. Eine Ausnahme macht das weibliche Geschlecht, das der Autorität der Männer unterworfen ist. Jedoch besitzen die älteren Frauen eine gewisse Autorität (Mutter, Großmutter, Urgroßmutter, Tante). Der älteste Mann ist das Familienoberhaupt, dessen Anordnungen und Einfluss sich alle Familienmitglieder zu fügen haben.
Die niedrige Stellung der Frauen ist nicht nur auf die Rechtsgesetze des Paschtunwali zurückzuführen, sonder auch darauf, dass die Frauen aus Gründen des Arbeitsmangels fast gar keine Verdienstmöglichkeiten haben. Sie leben deshalb von den Männern in Abhängigkeit. Andererseits gibt es in Afghanistan und Pakistan keine Altersversicherung, und so stellen die männlichen Kinder wegen der Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten für die Eltern eine Versicherung dar. Aus diesem Grund werden beide Geschlechter von Geburt an unterschiedlich behandelt.
Die Stellung und Rolle der einzelnen Familienmitglieder hängt nach außen oder in der Gesellschaft von der Stellung und Rolle ihrer Familie in der Gesellschaft ab. Die Rolle und Stellung der Familie hängt wiederum von der sozialen und Stammeszugehörigkeit ab. Zum Beispel wird eine Familie mit vielen Männern oder Stammesmitgliedern, die zur unteren Schicht gehört, dem Familienstatus und der Rolle der Familie entsprechen, die zur mittleren Schicht gehört und weniger Männer und Stammesmitglieder hat.
Fasst man das Gesagte noch einmal zusammen, so ergibt sich, dass das Alter nur innerhalb der Familie Vorrang hat, während in der Gesellschaft nicht das Alter, sonder die Familie als Gruppe (als Ganzes) die Stellung und den Status bestimt.
Literatur:
Hayatullah, A. : Die Wirtschaftlichen Entwicklungsprobleme Afghanistans, Nürnberg 1967
Klimburg M. Afghanistan, Wien 1966
Krause, W. Afghanistan, Tübingen und Basel 1973
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